Eine Kritik von "PierrotLeFou":
"The oldest and strongest emotion of mankind is fear, and the oldest and strongest kind of fear is fear of the unknown. These facts few psychologists will dispute, and their admitted truth must establish for all time the genuineness and dignity of the weirdly horrible tale as a literary form. Against it are discharged all the shafts of a materialistic sophistication which clings to frequently felt emotions and external events..."
(H. P. Lovecraft: Supernatural Horror in Literature)
Lovecraft ist das große Vorbild der heranwachsenden Beth, die zum Leidwesen ihrer minimal älteren Schwester Vera – auf der Autofahrt zum geerbten Haus der toten Tante – ihrer Mutter ihre jüngste, selbst verfasste Horrorgeschichte vorliest. Diese endet mit dem mysteriösen, unheimlichen Verschwinden der Hauptfigur – und die (von Mylène Farmer liebe- & eindrucksvoll verkörperte) Mutter findet sie großartig. Beth hingegen sorgt sich, dass Lovecraft zu deutlich durchschimmert.
Vera will derweil wissen, was diese horrorstory eigentlich aussagen will. Gar nichts – so die Antwort –, sie solle einfach bloß Angst machen.
Was immer auch zum Verschwinden der von Beth ersonnenen Figur geführt hat: Der Schrecken, dem sie selbst sich schnell ausgesetzt sehen wird, ist ganz irdisch und hat wenig mit Lovecrafts Werk gemeinsam. Zwei Männer, die in einem obskuren Eis- oder Candywagen umherreisen, werden die Familie in ihrem neuen Heim gehörig terrorisieren. Das ist eher Rob Zombie als Lovecraft – und mit Rob Zombie wird auch das geerbte, düstere, mit allerlei Puppen angefüllte Anwesen von einem der Mädchen in einen Zusammenhang gebracht (ganz so wie im Terror-Klassiker "The Texas Chainsaw Massacre" (1974) das aufgesuchte Haus von den Jugendlichen spöttisch als "the birthplace of Bela Lugosi" ausgegeben worden ist).
Der Schrecken bricht schnell über die Familie herein, die sich [Achtung: Spoiler!] in diesem Haus noch nicht einmal richtig eingenistet hat. Zuvor bekommt Beth noch ihre erste Periode und ist sichtlich schockiert. Ihre Schwester zeigt sich wenig verständnisvoll: Beth habe vor allem Angst – vor Blut, vorm Fliegen, vor Jungen –, schreibe aber ständig diese horriblen Geschichten. Und sie flüchte sich zu sehr vor der Realität in die Fantasie. Noch etwas anderes geschieht vor der Attacke der wahnsinnigen Männer: Die Schwestern finden einen Spiegel, hinter dessen Oberfläche nicht bloß das eigene Spiegelbild lauert, sondern eine monströs unheimliche Puppe, die einem nach dem Aufklappen der Spiegelfläche laut kichernd mit leuchtenden Augen anspringt. Im Nachhinein ist ersichtlich, dass in diesen Szenen nicht bloß die Themen der Fremd- & Selbstwahrnehmung etabliert worden sind, die sich durch den durchaus vielschichtigen Film ziehen werden.
Dann schlagen – scheinbar nicht zum ersten Mal – die Irren zu: Einer der Männer trägt Frauenkleider und eine Damenperücke, der andere – ein fettleibiger, debiler Hüne – spielt gerne mit vorzugsweise lebenden, möglichst unschuldigen Püppchen (und schnuppert stets am Schritt seiner Opfer, wohl auch um sicher ihrer Unschuld zu versichern). Beide zelebrieren auf ihre Weise Stereotypen von Weiblichkeit. Und unter ihren Händen werden die obszön geschminkten und mädchenhaft ausstaffierten Schwestern später auch zu püppchenhaften Stummfilmstars, die wie "Orphans of the Storm" (1921) ihrer vermeintlichen Rettung entgegenhetzen.
Doch zunächst einmal erfolgt die brachiale Attacke, in welcher der terrorfilmaffine Laugier alle Register seines Könnens zieht. Aber die schwer lädierte Mutter kann sich noch einmal aufraffen und quasi im Alleingang beide Eindringlinge ausschalten. Einige Jahre scheinen vergangen zu sein: Beth ist eine erfolgreiche Horror-Autorin, deren jüngstes Werk "Incident in a Ghostland" ihre früheren Erfolge ökonomisch betrachtet ums Vielfache übertrumpft. Aber der Erfolg, der Reichtum ist Beth egal: sie schreibt aus der Lust am Schreiben und – wie sie es in einer Talkshow erklärt, als die Frage nach dem autobiografischen Charakter des Buches aufkommt – um nicht wahnsinnig zu werden. Wer genau hinsieht, merkt schon hier, dass etwas nicht stimmt. Weniger Beths fragile Fassade, als die Schrecken ihrer Teenie-Zeit vor der Kamera angesprochen werden, sondern etwa das absonderliche Harlekin-Kostüm ihres kleinen Sohnes dürfte bereits irritieren.
Solche Irritationen nehmen zu, als Beth sich wieder mit der Vergangenheit auseinandersetzen muss: Sie erhält einen Anruf von Vera, derzufolge die Täter wieder da wären. Vera wohnt noch immer bei der Mutter im Haus der toten Tante, wo sie im Keller lebt, sich immer wieder einschließt und sich immer wieder selbst malträtiert. Es ist ein immer unglaubwürdigeres Szenario, in welches sich Beth nun nach ihrer Reise zu Mutter und Schwester begibt. Dann scheint auch der Eis-/Candywagen wieder am Haus vorbeizufahren, Beth hört die Stimmen ihrer ehemaligen Peiniger und schließlich folgt die Begründung, die man insgeheim schon geahnt hat: Beth ist nie eine erfolgreiche Autorin geworden, sondern verweilt nach wie vor mit der älteren Schwester und der Leiche ihrer Mutter im Haus der verstorbenen Tante. Sie hat sich bloß in ihre Fantasie geflüchtet, aus der Vera sie nun nach vielen Anläufen herausgeholt hat.
Und bevor ihre Peiniger wieder eintreffen, gibt Vera ihr einen guten Rat: Wenn sie nach oben gebracht werde, solle sie sich nicht wehren oder bewegen oder weinen, ansonsten werde es nur noch schlimmer.
Was folgt, ist für einige Minuten der unangenehmste Teil des Films, der misogyne, sexualisierte Gewalt ausgedehnt ins verstörend schöne Bild setzt, ohne selbst von eindeutiger Misogynie durchdrungen zu werden: eine Gratwanderung, die Laugier schon mit "Martyrs" (2008) gewagt hatte. Der Irre in Damenkleidern macht Beth püppchenhaft zurecht und setzt sie zu diversen Puppen ins obere Zimmer, wo alsbald der schwachsinnige Koloss auftritt und zunächst einige Puppen, dann Beth zu misshandeln gedenkt.[1]
Laugier-typisch vollzieht der Film nun einige Wendungen: Zunächst gelingt Beth samt Vera die Flucht. Zwei seltsam kostümierte Mädchen, die schluchzend durch die Landschaft hetzen: teils Pickford-Tragödie, teils Rollin-Poesie; so oder so eine Männerfantasie. (Dass Beth den Irren in Frauenkleidern – der quasi ein fahrbares Knusperhäuschen steuert – kurz darauf als Hexe und den fettleibigen Hünen als Oger bezeichnet, unterstreicht die unwirkliche Atmosphäre noch: neben der Männerfantasie also auch ein Märchen. Und auch eine langnasige, also auf Unwahrheiten hindeutende, Pinocchio-Figur zählt zur Ausstattung des unheimlichen Familienhauses! So oder so: zumindest gerät auch die Realitätsebene des Films im Laufe der Zeit immer unwirklicher, künstlicher, konstruierter.) Die Polizei tritt auf, das Happy End scheint nahe, aber der bewaffnete Peiniger reißt das Ruder wieder herum und mit dem Eis-/Candywagen geht es wieder zurück an den Ort des Schreckens. Daraufhin flieht Beth abermals in ihre Fantasie: Mutter, Mann, Sohn – noch immer im Harlekin-Kostüm! – und Agent wohnen einer Party bei, auf der Beth und ihr Werk gefeiert werden. Lovecraft selbst ist anwesend und gratuliert: Ihr "Incident in a Ghostland" sei meisterhaft und dürfe in keinem Wort verändert werden. Von draußen klopft Vera verzweifelt durch eine Milchglasscheibe.[2] Die Mutter rät, sie zu ignorieren; ihre Realität sei keine angenehme. Aber Beth kommt ihrer Schwester zur Hilfe, durchschreitet die Schwelle und nun erst ist (in der Realität?) ein Happy End vergönnt: Beth attackiert ihre Peiniger, ein hinzukommender Cop kann diese erschießen. Als sie im Krankenwagen abtransportiert werden, erscheint Beth am Fenster des Hauses noch einmal die tote Mutter und deutet auf Beths Schreibmaschine (welche Beth zuvor schon als Schlagwerkzeug und Mittel ihrer Befreiung eingesetzt hat).
Laugiers jüngster Spielfilm besitzt also genauso viele teils trügerische Ebenen wie (vermeintliche) Happy Ends: Neben der Realitätsebene wäre da zum einen die Ebene der Fantasie, zum anderen aber auch die Ebene des in der Fantasie geschriebenen Romans "Incident in a Ghostland". (Und man könnte sich darüber streiten, ob Laugiers "Incident in a Ghostland" nun bloß den Titel des fiktiven Romans zum Filmtitel gemacht hat, oder ob er gar nahelegen will, dass Film und Roman – den Beth dann irgendwann tatsächlich geschrieben haben würde – inhaltlich weitestgehend identisch sind. Aber da aufgrund des Lobes von Lovecraft in Beths zweitem Ausflug in eine schönere Fantasie davon auszugehen ist, dass ihr "Incident in a Ghostland" dem supernatural horror frönt, scheint diese Lesart das Spiel mit den Ebenen doch etwas zu weit zu treiben, wenn Beth in ihrer Fantasie nicht Lovecraft quasi bekehrt haben will. Andererseits mutet auch die Realitätsebene des Films immer wieder unwirklich und sonderbar märchenhaft an... Und beginnt der Film nicht mit einer per Schreibmaschine geschriebenen (Lovecraft-)Huldigung? Ist es nicht vielleicht doch bereits die Visualisierung des bethschen Romans, was den Film letztlich zu einem Beispiel schier unauflöslicher Zirkularität machen würde? War es in der Tat Beths Traum, Lovecraft zu bekehren und ihn auch den weniger kosmischen Horror wertschätzen zu lassen – und sich zugleich vom Einfluss dieses männlichen Schriftstellers zu befreien und endlich ihren eigenen künstlerischen Weg zu finden?)
Aber wie sind diese Ebenen nun miteinander verbunden? Oder wie Vera es formulieren würde: Was will uns diese Geschichte eigentlich sagen? Beth müsste antworten: Gar nichts, sie will einfach bloß Angst machen. Diese Antwort ist aber nur halb richtig (womöglich, weil Beth die nötige Reife fehlt, die sie sich später in einem qualvollen Prozess im Schnelldurchgang verschaffen muss). Sie ist insofern richtig, als Laugier es erneut schafft, mit seinem filmischen Terror Teilen des Publikums Angst einzujagen. Eine andere Antwort, die das deutsche Plakat gibt, lautet hingegen: "Stell dich deiner Angst".
Insgeheim kennt Beth alle Antworten, das zeigen ihre Fantasien: "Schreiben, um nicht wahnsinnig zu werden", lautet eine dieser Antworten. Das Publikum erfährt anfangs bloß, dass Beth vor so ziemlich allem Angst habe und Horrorstories schreibt: und dennoch Horrorstories schreibt, wie Vera es mutmaßt... aber der Film beharrt: und deshalb Horrorstories schreibt. Das wäre vielleicht auch Lovecrafts Antwort gewesen, der in seinem Aufsatz zur Phantastik schrieb: "Diese Literatur hat es immer gegeben, und es wird sie immer geben; und für ihre zähe Kraft lässt sich kein besserer Beweis anführen als der Impuls, der dann und wann Schriftsteller mit völlig entgegengesetzten Tendenzen veranlaßt, sich mit vereinzelten Erzählungen in diesem Genre zu versuchen, so als wollten sie damit ihr Gemüt von bestimmten gespenstischen Gebilden befreien, vor denen sie andernfalls keine Ruhe finden würden."[3] Nun treiben Beth nicht unbedingt Ängste vor gespenstischen Gebilden um, sondern Ängste vor (angeblich) so ziemlich allem und vor zwei wahnsinnigen Gewalttätern. Dass aber die Literarisierung von Ängsten es erlaubt, diese auch zu bannen, vereint Lovecraft und Beth und Laugier miteinander. (Und auch mit Stephen King, der nicht nur mit "Misery" (1987) eigene Ängste verarbeitete – wo übrigens wie bei Laugier ein Autor eine Schreibmaschine als Schlagwerkzeug einsetzt.)
Und zwischen beängstigender Realität und Literatur liegt die verarbeitende Fantasie: Derweil man über Beths Roman "Incident in a Ghostland" nicht viel erfährt, machen ihre Fantasien große Teile des Films aus. Solange diese aber nicht gebändigt und (nicht unbedingt schriftlich, aber zumindest gedanklich) in Romanform gebracht werden, machen sie auch einen beginnenden Wahnsinn aus, den erst das Schreiben überwindet. Beths Fantasien sind allerdings zu Beginn erst einmal Fantasien über Harmonie, Glück, Erfolg und Erfüllung: Eskapistische Auswege aus ihrem realen Elend; glückliche Welten, in denen sie ihrer Schwester Vera überlegen ist und ihre Mutter großzügig beschenken kann. Aber sie kennt in ihnen schon ganz zu Beginn die entscheidende Antwort: "Schreiben, um nicht wahnsinnig zu werden". Und daraufhin gerät ihre Fantasie zunehmend zur unheimlichen horrorstory, in der die (in ihrer Fantasie) toten Täter wieder zurückzukehren scheinen, in der die Stimmen der Täter geisterhaft zu hören sind. In ihrer Fantasie nimmt eine bethsche horrorstory Gestalt an, die sich aus eskapistischen Wünschen herausschält und Beth erst den Übergang in die klar erkannte Realität ermöglicht. Sie kämpft gewissermaßen in ihrer Fantasie mit dem Drang zur Flucht ins Schöne & Gefällige und der Notwendigkeit, die Augen zu öffnen, um der Lage Herr zu werden. (Oder vielmehr: der Lage Herrin zu werden, denn "Incident in a Ghostland" erzählt ja auch eine Emanzipationsgeschichte.)
Die zweite Fantasie, die nicht einfach einen überflüssigen, zweiten Schlenker darstellt, macht das besonders deutlich. Geh nicht, mahnt die Mutter in ihrer Fantasie: es sei hässlich auf der anderen Seite. Aber Beth stürzt sich dennoch durch die Milchglasscheibe zurück in diese hässliche Realität, für die sie längst schon einen Romantitel gefunden hat.
Insofern – und nur insofern – ist "Incident in a Ghostland" ein lovecraftscher Film: Weil er deutlich macht, dass die horrorstory reale Ängste verarbeitet und bändigt. Bei Lovecraft war das die Angst vor den Niggern und Juden, vor den Wilden, vor den Mischvölkern – und vielleicht auch noch vor den Frauen. Seine rassistischen und antisemitischen Äußerungen sind gut bekannt; seine Haltung zum weiblichen Geschlecht ist zumindest obskur: Er selbst äußerte sich mehrfach schriftlich darüber, keinerlei Interesse an der Sexualität zu haben. Seine große Frauenbeziehung nach Jahren des Junggesellentums hielt etwa zehn Monate.[4] In seinen Erzählungen bricht sich zumindest die Angst vor vermeintlichen Rassenunreinheiten deutlich Bahn: In "The Outsider" (1921/1926) oder "The Shadow Over Innsmouth" (1931/1936), einem seiner stärksten Texte, müssen die Protagonisten mit Entsetzen feststellen, dass sie nicht diejenigen sind, die sie zu sein glaubten. In "The Festival" (1923/1925) erfährt der Protagonist Ungeheuerliches über die Identität seiner Vorfahren. Am deutlichsten kulminiert diese Angst – wo sie sich nicht einfach bloß in direkten Schmähungen von Farbigen niederschlägt – in "Facts Concerning the Late Arthur Jermyn and His Family" (1920/1921). Und sicher nicht ganz zu Unrecht wird darüber spekuliert, ob sich in seinen Texten auch ein latenter Abscheu vor dem weiblichen Geschlecht niederschlägt: Es gibt kaum Frauen in seinen Erzählungen; in "The Thing on the Doorstep" (1933/1937) geht der alte Ephraim Waite von einer Überlegenheit des männlichen Geschlechts aus und Asenath Waite, eine der raren Frauenfiguren, ist im Grunde vom Geist ihres Vaters übernommen worden – und wie dieser eine bedrohliche Figur. Hinzu gesellen sich die vielen, Fischgeruch verströmenden, wässrig-feuchten, glitschigen, tintenfischartigen Wesenheiten: Man kann sofort an Theweleits "Angst vor den 'Fluten' [...], die aus dem Inneren des soldatischen Mannes hervorbrechen können"[5], denken.[6] Und auch Lovecraft-Fan Stephen King gesteht ein, dass man behaupten könne, "dass wir in Cthulhu einer gigantischen, mit Fangarmen ausgestatteten Killervagina begegnen, die außerhalb von Zeit und Raum ist."[7] Lovecraft brauchte gar nicht auf andere Autoren zu schauen, er selbst wusste nur zu gut, dass das, was er in seinen horrorstories monströs übersteigerte, auf ganz realen Abneigungen & Ängsten basierte.
"Incident in a Ghostland" handelt aber dankenswerterweise nicht von monströser, glitschig-feuchter Weiblichkeit oder abscheulichen Rassenvermischungen – und übrigens auch nicht von einer Angst vor entstellten Männern und Transvestiten, was man dem Film vorwirft, sobald man in den Wahnsinnigen eine Diffamierung von allgemeinen Typen erblickt (was ja auch zulässig ist)! –, sondern von einer Bedrohung durch einen behaupteten männlichen Blick, der Frauen bestimmte Formen zuschreiben will. Der Transvestit, der diese Formen an sich selbst zur Perfektion zu treiben gedenkt, und der monströse, offenbar oftmals zurückgewiesene Freak, der sich an unschuldigen Puppen vergeht, transformieren Vera und Beth im Laufe der Handlung: indem sie ihnen Beulen, geschwollene Augenlider und Schnittwunden zufügen, aber auch indem sie sie schminken, ankleiden, frisieren... Sie werden zu Pickford-Püppchen.
Und dagegen wehrt sich nicht Beths zuvor noch überlegenere, ihre (mit Jungs und Regelblutungen) etwas erfahrenere, etwas ältere Schwester Vera: Diese rät Beth, sich bei den Misshandlungen nicht zu wehren. Beth ist diejenige, die nach ihrem Eintauchen in die verarbeitende Fantasie dem Horror nicht bloß ins Auge sieht, sondern sich auch zur Wehr setzt; die mit ihrer Schreibmaschine zuschlägt, um später einen Roman aus dem Erlebten zu erschaffen. (Wie passend, dass Mylène Farmer die Mutterfigur abgibt: lange genug selbst in aufreizende Posen geschlüpft, um sich einem (freilich: nicht nur) männlichen Blick darzubieten, aber zugleich immer auch eigensinnig, widerständig und durchsetzungsfähig genug, um diesem Blick auch selbstbewusst und mit Würde standzuhalten: etwa in "Libertine" (1986).)
Sich schreibend zu finden, sich fantasierend zu erkennen: Davon handelt "Incident in a Ghostland", der nicht bloß von der Emanzipation gegenüber der normaleren, souveräneren, älteren Schwester erzählt, sondern eben auch von der Emanzipation der Frauen angesichts eines männlichen Blicks, der pünktlich zur ersten Regelblutung über Beth herfällt. Gleichzeitig ist es aber auch nicht unwahrscheinlich, dass der Film auch einem mehr oder weniger misogynen Publikum in die Hände spielt; für "Incident in a Ghostland" dürfte das noch stärker gelten als für "Martyrs". Kann man mit dieser potentiellen Gefährlichkeit des Films leben (und sich mit äußerst unangenehmen Szenen sexualisierter Gewalt arrangieren), dann bekommt man einen Film, der nicht nur bestens als beklemmender Terrorfilm funktioniert, sondern auch noch etwas über die Rolle der Kunst, des Horror-Genres, der Weiblichkeitsstereotype mitzuteilen gedenkt und in Ausstattung und Kulisse das Gros der aktuellen, nicht selten teureren Horrorfilme hinter sich lässt.
8/10
1.) Dass dabei zunächst eine Puppe mit einem Lötkolben bearbeitet wird, mag einen Verweis auf Mariano Bainos "Caruncula" (1990) darstellen. (Mit "Temnye vody" (1993) hatte Baino einst einen ebenfalls auf Lovecraft Bezug nehmenden Horrorfilm gedreht, der unter Genreliebhabern als kleine Perle gehandelt wird und den Laugier sicherlich kennen dürfte.)
2.) Fast schon unangenehmer als die sexualisierte Gewalt ist der Umstand, dass Veras Darstellerin Taylor Hickson sich dabei unter Laugiers Regieanweisungen an der zersplitternden Scheibe im Gesicht verletzt hat und seitdem eine Narbe trägt, welche nicht ihre Schönheit, aber offenbar laut Aussage des Anwalts ihren Marktwert im Filmgeschäft dauerhaft beeinträchtigen könnte. Bei einem Film, der latent sexistische Püppchen-Ideale und den männlichen Blick thematisiert und mit dem Plakat eines zerbrechlichen Porzellanpüppchen-Gesichts wirbt, mutet das beinahe wie eine bizarre, rabenschwarze Ironie des Schicksals an.
3.) H.P. Lovecraft: Die Literatur der Angst. Zur Geschichte der Phantastik. Suhrkamp 1995; S. 11.
4.) Vgl.: Sonia H. Davis: Das Privatleben H.P. Lovecrafts. In: Franz Rottensteiner (Hg.): Der Einsiedler von Providence. Lovecrafts ungewöhnliches Leben. Suhrkamp 1992; S. 141-181.
5.) Klaus Theweleit: Männerphantasien. 1. – Frauen, Fluten, Körper, Geschichte. Stroemfeld/Roter Stern 1986; S. 322.
6.) Zu diesem Thema hat unlängst der Festa-Verlag, der sich seit einigen Jahren vor allem mit Lovecraft-Veröffentlichungen einen Namen gemacht hat, einen umfangreichen Band herausgebracht: Bobby Derie: Sex und Perversion im Cthulhu-Mythos. Ein intimer Blick auf H.P. Lovecraft und sein literarisches Erbe. Festa 2017.
7.) Stephen King: "Lovecrafts Kopfkissen". In: Michel Houellebecq: Gegen die Welt, gegen das Leben. Rowohlt 2011; S. 12.