Eine Kritik von "Der Zerquetscher":
„Jetzt verlöschen die Lichter in ganz Europa. Wir werden sie nie wieder in unserem Leben brennen sehen." (Außenminister Edward Grey am 04. August 1914, dem Tag der Kriegserklärung Großbritanniens an das Deutsche Reich)
Der Erste Weltkrieg gilt in der modernen Wissenschaft als der Inbegriff eines nicht notwendigen Konflikts. Viele bezeichnen ihn vor diesem Hintergrund als die größte politische Tragödie der neueren Geschichte. Nun mag ein überzeugter Pazifist womöglich jeden kriegerischen Konflikt seinem Wesen nach als sinnlos erachten - ein IS-Kämpfer würde dem allerdings mit derselben Nachdrücklichkeit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit widersprechen. Doch Dogmen beiseite, die Lehrmeinungen irgendwo in der Mitte des themabezogenen Meinungsspektrums argumentieren in ihrer Mehrheit im Geiste von Lloyd George. Der britische Premierminister der Jahre 1916 - 1922 sprach in seinen 1933 niedergeschriebenen Memoiren von einem „Hineinschlittern" der europäischen Völker in den Krieg. Christopher Clark, der führende Fachwissenschaftler in Sachen Kriegsschuldfrage, spricht vom „Schlafwandeln" der aristokratischen und parlamentarischen Verantwortlichen hinein in die Katastrophe. Niemand habe den Krieg gewollt - und doch habe ihn keiner ernsthaft zu verhindern gesucht.
Vor diesem historischen Hintergrund, den immer schärfer werdenden Ton auf dem internationalen Parkett im Ohr (Nicht zuletzt den aus dem Munde des britischen Premiers Boris Johnson) und der dringenden Erkenntnis geschuldet, dass wir Europäer einander brauchen und nationales Einzelgängertum eingedenk der globalen Konflikte (und in Erinnerung unserer gemeinsamen Vergangenheit) unweigerlich in eine Sackgasse führt, hätte Sam Mendes, wie einst, Diskussionswürdiges leisten können. Bemerkenswertes womöglich. Und zwar auch, was seine filmische Botschaft anbelangt, denn die Kulissen seines aktuellen Werks sind in der Tat der Erwähnung wert. Doch unterlässt es der Brite, gegen den Strom zu schwimmen oder gar den sich selbst überhöhenden Heißspornen in der Heimat die Leviten zu lesen. Der noch vor ein paar Jahren gern provozierende Regisseur, der es mit dem Militär nie so hatte („American Beauty" 1999, „Jarhead" 2005), nimmt die fiktionalen Anekdoten eines seiner Vorfahren als Aufhänger, dem britischen Expeditionskorps des Ersten Weltkriegs zu gedenken, zu danken und nach „Dünkirchen" (2017) und der „Dunkelsten Stunde" (2017) den nunmehr dritten Brexit-Film der letzten drei Jahre abzuliefern. Und auch wenn diese bittere Erkenntnis von so noch nie gesehenen, preisverdächtigen Kulissen verstellt sein wird, sie war so vorhersehbar wie sie - einhundert Jahre nach dem Ersten Weltkrieg - ernüchternd ist.
„Um nichts auf der Welt möchte ich diesen herrlich aufregenden Krieg missen" (Britischer Marineminister und späterer Premierminister Winston Churchill im Herbst 1914)
In einer knapp zweistündigen Kamerafahrt, die, gut kaschiert, nur wenige Male für einen notwendigen Schnitt unterbrochen wird, folgt man zwei jungen Briten, denen ihr Divisionskommandeur (nur kurz: Colin Firth) einen Himmelfahrtsauftrag erteilt. Sie sollen sich durch das mondlandschaftsartige Niemandsland der Hauptkampflinie schleichen, um dem Befehlshabenden eines vorgeschobenen Bataillons (nur kurz: Benedict Cumberbatch) den dringenden Befehl zu übermitteln, einen geplanten Angriff abzubrechen. Misslingt die Mission, fallen 1600 Mann.
Der die Story des Films ausschließlich bestimmende lange Botengang gerät streckenweise, ganz bewusst, zu einer Landpartie, um dann im nächsten Moment an das bekannte Triptychon von Otto Dix zu erinnern. Und wer das vor Augen hat, weiß, welche schaurigen Bilder hier im Schlamm lauern. Wasserleichen, zermantschte menschliche Überreste, Schädel, die sich aus dem Schlick bohren, als wollten sie den Lebenden ihre Geschichte erzählen. Eine Pestlandschaft. Dabei unterlässt es Mendes bis kurz vor dem Ende seines Films, die für diese absurde Brutalität verantwortlichen Kampfmittel in Aktion zu zeigen. Man sieht nichts von ratternden Maschinengewehren. Da sind keine Flammenwerfer, die durch Schießscharten in Bunker sprühen. Kein Giftgas, das sich als gelbliches Leichentuch über die Landschaft legt. Und kein wochenlanges Trommelfeuer, das selbst Hartgesottene in psychische Wracks verwandelt. Sam Mendes zeigt noch eindrücklicher als 2005 mit „Jarhead" die Hölle, aber nicht den Teufel. Obwohl - so ganz stimmt das diesmal nicht. Denn der Alp ist bei genauem Hinsehen zu erkennen. Immer nur kurz. Meist im Schatten oder schemenhaft. Und er trägt Feldgrau.
Die gesichtslosen Typen mit dem Stahlhelm M16 auf dem Kopf sind nicht vertrauenswürdig. Sie sind hinterlistig. Sie sind brutal. Sie saufen und sie kotzen. Sie sind die „Huns". Nun könnte man bei einem flüchtigen Blick auf den Gedanken kommen, dass Mendes sozusagen en passant die groteske zeitgenössische „Hunnen"-Propaganda der alliierten Kriegsmaschine aufs Korn nimmt. Immerhin ist er Brite und erzählt eine Geschichte seines Landes. Die Dekonstruktion von martialischer Agitation ist immer intellektuell auffällig und wäre natürlich erst recht bei einem Film über den „Great War", der von zügellosem Nationalismus auf allen Seiten geprägt war, angezeigt. Doch von Fairness oder (europäischer) Versöhnung ist da keine Spur. Da ist, um nur ein Beispiel zu nennen, der abgeschossene deutsche Pilot, der von den zwei jungen englischen Soldaten aus seiner brennenden Maschine gezogen wird - und zum Dank arglistig mit dem Messer zusticht. Ein Topos des uniformierten Deutschen, den schon Steven Spielberg mit „Der Soldat James Ryan" (1998) benutzte, um die Notwendigkeit des rücksichtslosen Kampfes der eigenen „Boys" herauszustreichen und die teilnahmslose Behandlung Gefangener zu rechtfertigen. Es erübrigt sich zu erwähnen, dass die wenigen Deutschen, denen die beiden Meldegänger begegnen, auch auf kurze Distanz ungefähr so gut schießen wie Ray Charles. Wirklich in Gefahr sind die beiden eigentlich nur dann - lässt man den Film kurz Revue passieren -, wenn sie menschlich sind. Sobald sie anständige Menschen sind. Ein kognitives Fazit, das moralisch fragwürdig ist.
Sam Mendes leistet ohne jeden Zweifel Großes in Sachen Dekoration, Bühnenbild und Szenerie. Nie wurde der Schrecken des Ersten Weltkriegs visuell eindringlicher aufbereitet. Seine Geschichte schwächelt allerdings immer dann, wenn er sich markiert darum bemüht, seinen beiden Protagonisten oder seiner Erzählung Tiefe zu verleihen. Die stets mit einem langen Atemzug gewürdigten blühenden Wiesen der flandrischen Landschaft dienen dazu, die nur wenige hundert Meter entfernt tobenden „Stahlgewitter" zu kontrastieren. Und doch fühlt man sich förmlich mit Schmetterlings-Symbolik bedrängt. Mendes ist und war noch nie ein Meister der intensiven Narration. Am deutlichsten macht sich das an einer kurzen Sequenz fest, in der man auf ein im Keller einer qualmenden Stadt ausharrendes Mädchen trifft, das ein Findelkind auf dem Arm hat und um etwas Milch bittet. Es werden ein paar austauschbare Allgemeinplätze gewechselt, die in ihrer Plattitüde aus dem Vorabendfernsehen entliehen sein könnten und die bis auf die Gelegenheit, ein weiteres Mal das Bild des „Saint and Soldier" zu zeichnen, dramaturgisch gegenstandslos sind. Auch hier drängt sich ein Vergleich zur „Baby-Szene" aus dem „Soldaten James Ryan" auf (in der Vin Diesel just beim Retten eines kleinen Mädchens erschossen wird). Die Profile der beiden wenig differenziert oder komplex entworfenen Hauptcharaktere bleiben weit hinter der Schärfe an Kontur, mit der gemeinhin verehrtere Regisseure wie Martin Scorsese, Terrence Malick oder Werner Herzog ihre Figuren porträtieren. Das ist schade, aber natürlich volle Absicht.
Mendes verlässt spätestens am Ende seines Films der Mut, den er ja eigentlich die neunzig Minuten zuvor auch nicht hatte. Der Irrsinn dieses Kriegs, seine sture Vehemenz und taktische Einfallslosigkeit wären durch ein drastischeres Ende besser auf den Punkt gebracht worden. Der Schlund der Hölle öffnet sich - und schließt sich wieder! So finster hätte es sein können. So unrettbar traumatisch und unverrückbar apokalyptisch. Und dann dies Husarenstück. In der bitteren Realität ließen die englischen (wie natürlich auch auf der Gegenseite die deutschen) Generäle ihre jungen Schutzbefohlenen zu Tausenden in die lafettierten Maschinengewehre des Gegners, gegen Schrapnell spritzende Minenwerfer und glühende Granatsplitter anrennen. Und sie hörten damit auch nicht auf, als sie merkten, wie sinnlos solche napoleonischen Angriffe im Zeitalter von Massenvernichtungswaffen waren. Dass Orden letzten Endes nur Blech seien, wie von einem der Jungen treffend reflektiert, muss eine Binsenweisheit bleiben, solange er selbst der Geschichte den Helden schenkt.