Eine Kritik von "vodkamartini":
Im Brexit-Graben - Sam Mendes erzählt Geschichte
Der Erste Weltkrieg gilt als die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts. Der europäische Kontinent war mit wehenden Fahnen in einen Krieg gestolpert, den er in Anlage, Ausmaß, Brutalität und Wirkung erst zu begreifen begann, als es längst zu spät war. Der britische Historiker Christopher Clarke hat für die europäischen Mächte den sehr treffenden Begriff der „Schlafwandler" geprägt, das grausige Erwachen hätte kaum alptraumhafter ausfallen können.
Das galt und gilt vor allem für den einfachen Soldaten an der Front. Die kollektive Besoffenheit von der eigenen Größe und Stärke durch Nationalismus, Imperialismus und Militarismus hatte sich nahtlos auf die Millionenheere blutjunger Frontsoldaten übertragen, die im Rausch der eigenen Unbesiegbarkeit ins Feld zogen, ohne auch nur ansatzweise auf die grausamen Realitäten vorbereitet zu sein, die sie erwarteten. Das massenhafte Sterben in den Gräben der Ost- und Westfront, grauenhafte Verletzungen und Verstümmelungen durch riesige Artilleriegeschütze und den Einsatz von Gas sowie ein apokalyptisch anmutendes Kampfgebiet aus Schlamm, Dreck und Leichenbergen von Mensch und Tier.
Im anglo-amerikanischen Spielfilm fristete dieser Krieg schon immer ein Schattendasein, viel lieber widmete man sich ausführlich dem aus eigener Sicht ungleich glorioserem Zweiten Weltkrieg. Hier hatte man mit Nazideutschland nicht nur ein klar definiertes Feindbild, sondern auch einen Verlauf, der Schauplatzwechsel und ein Gefühl des Vorankommens bot. Hier konnte man problemlos Geschichten um Kriegshelden stricken, die tapfer, wage- und edelmütig dem Gegner trotzten und ihn in die Knie zwangen. Beim jahrelangen Stellungs- und Erschöpfungskrieg von 1914-1918 tat man sich ungleich schwerer, die bewährte Masche der Übertragung wesentlicher Motive des Western- und Abenteuerkinos auf den Kriegsfilm durchzuziehen.
Im Zuge von Steven Spielbergs WW2-Epos „Saving Private Ryan" begann sich das Blatt langsam zu drehen. Zwar war sein Film keinesfalls frei von Klischees und schon gar nicht von tendenziösen Aussagen und diversen John Wayne-Momenten, aber er zeigte erstmals ungeschönt das grausame Sterben auch der eigenen Soldaten und setzte mit einer in Sachen Drastik, Brutalität und Infernalität schockierenden Auftaktsequenz neue Maßstäbe für die Darstellung des Krieges im Mainstreamkino. Kurz: der Blick wurde düsterer, schonungsloser in gewisser Weise auch konsternierter. Für die spezifischen Eigenheiten des Ersten Weltkriegs war dieser teilweise Perspektiv- und Tonwechsel wie geschaffen.
Sam Mendes mehrfach prämierte Verarbeitung der Kriegserlebnisse seines Großvater hat sich eindeutig dieser neuen Tradition des Kriegsfilms verschrieben. Schon der gewählte Titel „1917" zeigt, dass es hier kaum um eine plakative Glorifizierung gehen kann. Längst sind die Kriegsparteien im zermürbenden Abnutzungskampf des Grabenkriegs erstarrt. Das blutige Massensterben gehört ebenso zum Kriegsalltag, wie die Allgegenwart von Elend, Dreck, Verwesung und Hunger. Der Sieg, sofern er überhaupt kommt, scheint in weiter Ferne und nur noch über den größeren Erschöpfungsgrad des Gegners möglich.
In dieser trostlosen Pattsituation schickt Mendes seine zwei jungen Protagonisten durch die feindlichen Linien, um die in eine Falle laufenden eigenen Truppen zu warnen. Was nach einem heldischen Himmelfahrtskommando in bester Westerntradition klingt, ist in Wahrheit eine (er)nüchtern(d)e Bestandsaufnahme der spezifischen Schrecken und Eigenheiten des Ersten Weltkriegs durch die Augen zweier junger britischer Frontsoldaten. Dass diese, so Mendes, genauso gut Deutsche sein könnten, suggeriert eine universelle und neutrale Ausrichtung des Films, die sich dem modernen Gedanken eines vereinten Europas verschreibt. Hier klaffen Absichtserklärung und Realität allerdings sehr weit auseinander, denn „1917" ist ein durch und durch britischer Film mit einer durch und durch britischen Botschaft, aber dazu später mehr.
Ähnlich wie Spielberg gelingt Mendes und seinem Lieblingskameramann Roger Deakins zunächst eine grandiose Auftaktsequenz, die den Zuschauer unmittelbar ins Kriegsgeschehen versetzt. Die Kamera folgt dabei den beiden Lance Corporals Will Schofield und Tom Blake durch das ausgebaute Grabennetz der britischen Truppen an der nordfranzösischen Westfront. Sie sind auf dem Weg zu den nur wenige Kilometer entfernten deutschen Schützengräben, die der Feind im scheinbaren Rückzug fluchtartig verlassen hat. In Wahrheit soll es sich dabei um einen taktischen Rückzug handeln, der die Briten zu einem Frontalangriff auf die bestens ausgebaute „Siegfriedstellung" verleiten soll.
Als Zuschauer ist man quasi selbst mit im Graben und läuft vorbei an rauchenden, verwundeten, müden und desillusionierten Soldaten, die im stoischen Fatalismus die nächste Offensive oder den nächsten Angriff erwarten. Von Begeisterung, erregter Erwartung oder irgendeiner Form von Kampfeslust ist weit und breit nichts zu spüren, es herrscht allerorts eine bleierne Trostlosigkeit. Als die beiden das Niemandsland zwischen den Frontlinien betreten wird die Atmosphäre noch düsterer. Vorbei an leichenübersäten Schlammlöchern, tonnenweise Kriegsschrott und verwesenden Tierkadavern stapfen die beiden durch eine apokalyptische Mondlandschaft. Szenen wie der unbeabsichtigte Griff in die offene Wunde eines Toten oder das Anknabbern menschlicher Leichen durch Vögel und Ratten brennen sich dabei besonders ein.
Um das Erleben der beiden noch unmittelbarer zu gestalten, griff Mendes auf einen gleichermaßen aufwändigen wie genialen technischen Kniff zurück. Deakins war nicht nur mit seiner Kamera permanent ganz nahe bei den Protagonisten, sondern hatte auch den Auftrag, den Film wie einen einzigen, ununterbrochenen Shot zu drehen. Praktisch eine 110-minütige Plansequenz. Tatsächlich war das durch die zahlreichen Schauplatz- und damit Kulissenwechsel gar nicht möglich, was eine logistische und planerische Expertise erforderte die definitiv ein Meisterstück darstellt. Besonders in der ersten Stunde funktioniert dieser Umnittelbarkeitsanspruch perfekt, erst als Mendes das Konzept der Kongruenz von Erzählzeit und erzählter Zeit verlässt, lässt die Wirkung nach. Im weiteren Verlauf machen Explosionen oder Schwarzblenden die eben doch vorhandenen Schnitte deutlich, so dass das Konzept zunehmend an Kraft und Intensität verliert.
Ähnlich wie bei Mendes Landsmann Christopher Nolans, der mit seinem 3-Zeitebenen-Konzept in „Dunkirk" (2017) ebenfalls dem Krieg mit Hilfe eines filmischen Kunstkniffs näher zu kommen versuchte, bekommt der Film zunehmend einen akademischen Anstrich, der sich nicht nur den „Style over Substance"-Vorwurf gefallen lassen muss, sondern auch das zunächst so grandios inszenierte Unmittelbarkeitserlebniss sukzessive demontiert. Wenn Schofield durch die von deutschen Leuchtgranaten immer wieder taghell erleuchteten Ruinen der Geisterstadt Écoust irrt, dann hat das etwas - gerade wegen seiner visuellen Brillanz - künstlich Theaterhaftes und Surreales, das nicht zu den Nihilismus-Panoramen der ersten Stunde passt. Auch die als emotionaler Höhepunkt gedachte Begegnung mit einer jungen Französin und einem Baby kommt nicht zuletzt wegen ihrer unlogischen Begleitumstände einem Störfeuer für den so minutiös errichteten Realismus-Gedanken gleich.
Indem das Mittendrin-Empfinden immer mehr einem ungleich abstrakteren, poetischen Ton weicht, wird auch die auf ein Minimum reduzierte Handlung deutlich. Der Film wird zunehmend episodenhaft, was ihn insgesamt unrund erscheinen lässt. Dazu gesellen sich unnötige tendenziöse Anspielungen, die am Neutralitätsgedanken und universellem Antikriegsanspruch des Regisseurs zumindest Zweifel aufkommen lassen. Exemplarisch dafür steht die Szene, in der Blake hinterrücks von einem deutschen Flieger erstochen wird, den er gerade aus seinem brennenden Flugzeugwrack gezogen hatte und ihm nun entgegen der Empfehlung seines Freundes auch noch Wasser aus seiner Feldflasche geben wollte. Eine in Anlage und Verlauf völlig unglaubwürdige Situation. Gerade weil der deutsche Gegner nur in wenigen Szenen auftaucht, ist seine ausnahmslos negative Darstellung als heimtückisch, undankbar, versoffen und miserabler Schütze umso auffälliger und wirkungsmächtiger. Dazu passt auch der Grundplot einer perfide gestellten Falle, in die die aufrechten Engländer zu laufen drohen, was den falschen Eindruck einer moralisch ungleichen Kriegsführung der beiden Kontrahenten suggeriert.
Über wie wenig historisches Verständnis Mendes letztlich bezüglich des Ersten Weltkriegs verfügt, offenbart folgende Aussage: "There was this generation of men fighting then for a free and unified Europe, which we would do well to remember." (Independent, 28.12.2019). Die Soldaten der Entente und der Mittelmächte kämpften 1914-1918 für vieles, aber ganz sicher nicht für ein freies und vereintes Europa. Ironischerweise hat Mendes, obgleich sicherlich ein Brexit-Gegner, einen Film für die Brexit-Befürworter gedreht, indem er trotz aller Grausamkeiten und Fatalismen die Fahne des britischen Selbstverständnisses hisst, sein Schicksal, sei es noch so grausam, selbst in die Hand zu nehmen und damit letztlich zu triumphieren. Er ähnelt damit frappierend Nolans „Dunkirk" der ebenfalls auf künstlerisch ambitionierte und anspruchsvolle Art ein britisches Kriegstrauma zum positiv assoziierten, gemeinsam gemeisterten Erweckungs- und Entberhrungserlebnis umdichtete, an dessen Ende der zwar nicht gezeigte, aber jedem selbstredend bekannte Sieg steht. Die Pro-Brexit-Stimmung vieler Briten wird so ob gewollt oder ungewollt nicht nur aufgegriffen, sondern stimuliert und macht auch „1917" weit mehr zu einem Zeugnis über seine Entstehungszeit wie über die Zeit des Ersten Weltkriegs.