Eine Kritik von "vodkamartini":
Extraction (Netflix Marke Eigenbau 4)
Jetzt ist es amtlich. Netflix hat beschlossen den amerikanischen Actionfilm vor dem Aussterben zu schützen. Und dafür ist ihnen nichts zu teuer. Den Anfang machten die Alphatiere Michael Bay (6 UNDERGROUND) und Peter Berg (SPENSER CONFIDENTIAL), die erprobte Ledernacken wie Ryan Reynolds und Mark Wahlberg in die Schlacht schickten. Die machten nun wohl den Weg frei für viel versprechende Offiziersanwärter mit Nahkampfausbildung. Ein solcher ist Sam Hargrave, der sich seine Meriten als Stuntman und Stunt Coordinator in diversen Marvel-Spektakeln v.a. der Russo-Brüder (u.a. AVENGERS: ENDGAME und INFINITY WAR) Anthony und Joe verdient hatte. Die stecken nun auch hinter TYLER RAKE: EXTRACTION, der Filmversion einer Graphic-Novel Joe Russos, der auch gleich das Drehbuch mit verfasste. Heraus gekommen ist ein bleihaltiges Search-and-rescue-Brett, in dem auch John Rambo eine gute Figur abgegeben hätte.
Allerdings hat man hier nicht auf einen der inzwischen auch sehr betagten alten Recken zurück gegriffen, sondern MCU-Star Chris Hemsworth in den Kampfanzug gesteckt. Bei der Beteiligung der Russo-Brüder liegt eine Verpflichtung eines der Avengers, zumal des Stärksten (wie er immer wieder selbst betont), natürlich nahe, aber der hünenhafte Australier ist auch abgesehen von seiner Donnergott-Vergangenheit eine vortreffliche Wahl. In solch eindimensionalen Ballerorgien braucht es eine ordentliche Portion Charisma, will man nicht nur ein nerdiges Spartenpublikum erreichen. Und Hemsworth ist damit ausgiebig gesegnet. Seine strahlende Heldenaura leuchtet auch noch unter einer zentimeterdicken Blut-Dreck-Beschichtung, die stahlblauen Augen vermitteln auch im größten Bleigewitter noch Zuversicht und Willenskraft.
Die hat er auch nötig, denn die Mission ist ein Himmelfahrtskommando. Der anfangs versprochene „Schnell rein und noch schneller wieder raus“-Auftrag erweist sich schnell als ultimativer Albtraum, bei dem sich Tyler durch eine Hundertschaft schießfreudiger Gegner pflügen muss, um die befreite Geisel sicher aus der Stadt zu schaffen. Bei der handelt es sich die bangladesische Hauptstadt Dhaka, die hier als völlig unübersichtlicher und feindseliger Moloch präsentiert wird, bei dem an jeder Ecke ein Scherge des allmächtigen Gangsterfürsten Amir, der praktischerweise Militär und Polizei kontrolliert. Mit der Entführung des 14-jährigen Ovi hatte er dessen Vater und gleichzeitig seinen größten Rivalen mächtig unter Druck gesetzt und ist wenig geneigt, dieses Gewinnerblatt so mir nichts dir nichts wieder aus der Hand zu geben.
Formelhaft ist sicher keine Beleidigung für diesen Plot, aber auch kein Malus. Hier geht es nur um eines, Action. Die offensichtlichen Vorbilder der in den letzten Jahren zunehmend enteilten asiatischen Konkurrenz (u.a THE RAID) sind da ähnlich simpel gestrickt und auf das Wesentliche fokussiert. Und Sam Hargrave ist für diese Schwerpunktsetzung genau der Richtige. Vor allem in den Kämpfen Mann gegen Mann oder besser Mann gegen Männer ist er voll in seinem Element. Gleich zu Beginn legt er eine furiose Kampfchoreographie aufs Parkett, bei der Tyler Ovi aus den Klauen einer 10-köpfigen Wachmannschaft befreit und dabei für jeden einzelnen eine eigene, unsanfte Jenseitsbeförderung parat hält. Schnitt, Ton und Stuntarbeit harmonieren hier perfekt und setzen eine viel versprechende Duftmarke. Immer wieder unterbricht Hargrave die ebenfalls ungemein druckvoll inszenierten Feuergefechte für solche Handgreiflichkeiten und wartet zudem mit einer spektakulären, als Plansequenz konzipierten Autoverfolgungsjagd auf, bei der die Kamera immer wieder aus Tylers Auto raus und hinein zoomt, so dass man tatsächlich mitten drin ist, statt nur dabei. Und obwohl EXTRACTION klar Hemsworths Show ist, hat auch die zweite Reihe einiges zu bieten. So dürfen unter anderem die ExilIranerin Golshifteh Farahani (als Rakes Söldnerchefin) und der indische Superstar Randeep Hooda (als doppelgesichtiger Auftragskiller) ihre Combat-Qualitäten unter Beweis stellen und liefern dabei anstandslos.
In Kombination mit einer kompromisslosen Härte und einem harmonischen Verhältnis zwischen Cut, Tempo und Übersichtlichkeit bekommt man so einen der besten Actionstreifen der vergangenen Jahre serviert, zumindest was deren amerikanische Herstellung angeht. Aus Fansicht ist das klar ein mehr als freudiger Anlass, auch wenn es nicht zu einem neuen Meilenstein reicht. Natürlich merkt man, dass Hargrave BLACK HAWK DOWN, JOHN WICK, LONE SURVIVOR und diverse asiatische Edelstoffe gesehen hat. Das Szenario ist weder neu, noch hat es eine zweite Ebene wie z.B. den Paralleluniversum-Unterbau der WICK-Filme. Die psychologische Backround-Geschichte des Söldners Rake biedert sich ein klein wenig an der modernen Mode gebrochener Heldenfiguren an und ist, wenn nicht gleich hinderlich, so doch zumindest unnötig für das Funktionieren der Figur. Das alles sind aber letztlich nur ein paar Kratzer in einer ansonsten glänzenden Politur. Wie oft wurde in den vergangenen Dekaden das Versickern harter Actionstoffe in sumpfige B/C-Gefilde beklagt. Auch wenn das Kino hier noch nicht erkennbar gegensteuert, so nimmt zumindest ein Streaming-Riese wie Netflix zunehmend Witterung auf und sorgt für eine hoffentlich zukunftsträchtige Trendumkehr. Extraktion gelungen, Fortsetzung kann folgen.