Eine Kritik von "vodkamartini":
Im Rausch der Zeit
Zeit ist relativ. Sitzt man in einer Konferenz oder beim Zahnarzt, können einem 5 Minuten wie eine Ewigkeit vorkommen. Sieht man einen spannenden Film oder befindet sich in anregender Gesellschaft, verfliegt die Zeit regelrecht. Eines ist aber gewiss, die Zeit vergeht. Oder etwa nicht? Sieht man Christopher Nolans neues Actionspektakel TENET, kommen einem ernsthafte Zweifel. Hier wird gewissermaßen der Fluss der Zeit umgekehrt, sie läuft also rückwärts ab. Das gilt für Objekte, aber auch für Menschen, die Geschehenes nicht nur rückwärts erleben, sondern so auch etwas bereits Geschehenes ändern können. Noch Fragen?
Jetzt soll keiner sagen, er wäre nicht gewarnt gewesen. Was hat uns Nolan zeittechnisch nicht schon alles zugemutet. In MEMENTO erzählt er die Handlung rückwärts, in INCEPTION entführte er uns in Traumwelten, in denen die Zeit im Vergleich zur Realität um ein vielfaches beschleunigt abläuft und in INTERSTELLAR wird die Zeit kurzerhand gefaltet, so dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft praktisch parallel ablaufen. Da waren die drei Zeitebenen auf denen er seinen Kriegsfilm DUNKIRK erzählte fast schon eine Beleidigung unserer Zeitintelligenz.
Keine Frage, der Mann ist ein Zeitverrückter, sofern es den Ausdruck irgendwo gibt. Da er aber obendrein ein begnadeter Geschichtenerzähler mit epischer Bildsprache ist, kann man seine Filme auch problemlos genießen, ohne den wissenschaftlich-philosophischen Diskurs zum Thema Zeit in Gänze zu durchblicken. TENET ist dafür ein Paradebeispiel. Wem beim Begriffstrio „Inversion“, „Entropie“ und „Algorithmus“ binnen kürzester Zeit die Synapsen durchglühen, der kann sich entspannt der in Filmkreisen seit Jahren heiß diskutierten, aber deutlich profaneren Frage widmen, wie den nun ein Christopher Nolan-Bondfilm aussehen würde.
Ja, TENET entwirft zuallererst mal ein geradezu klassisches 007-Szenario. Es gibt einen Agentenhelden, der die Welt vor einem gefährlichen Superschurken retten soll und dabei allerhand schweißtreibende Actionabenteuer zu bestehen hat, bei denen eine Menge zu Bruch geht und die Überlebenschancen den Realitätsstresstest eher nicht bestehen würden. Natürlich gibt es auch eine schöne Frau, fast noch schönere Schauplätze und ein großes Finale, das mit der obligatorischen Quantifizierung von Mensch und Material aufwartet. So weit, so gut. Aber Nolan wäre nicht Nolan, wenn er über diese Schablone nicht mit ein paar unkonventionellen Pinselstrichen hinaus malen würde.
Eine offenkundige Bondrolle mit einem farbigen Darsteller zu besetzen (Denzel Washingtons Sohn John David macht seinem großen Namen alle Ehre), ist vor dem Hintergrund der viel diskutierten Neuausrichtung des 007-Charakters nach Daniel Craig sicher kein Zufall, sondern ein klares Statement nach dem Motto „Seht her, das klappt wunderbar“ oder auch einfach nur ein lapidares „Ihr redet, ich mache“. Dem Helden eine zwei Köpfe größere Partnerin (Elizabeth Debicki), auch wenn eine Liebesbeziehung nur angedeutet wird, an die Seite zu stellen, setzt da in seiner gegen alle etablierten Actionheld-Konventionen verstoßenden Chuzpe noch mal einen drauf und ist ein köstlicher Einfall. Das gilt auch für die Namenlosigkeit von Washingtons Figur, die schlicht „Der Protagonist“ heißt und das glatte Gegenstück zum zigfachen Hinausposaunen des Bond-Namens darstellt. Nolan spielt also mit gängigen Narrativen und Bausteinen, dekonstruiert sie und setzt sie dann wieder neu zusammen. Einen Bondfilm braucht er nun nicht mehr zu drehen, zu dem Thema hat er alles gesagt.
Beim Blockbusterkino liegt der Fall anders. Nolan braucht gewissermaßen eine mediale Wiese um seine Ideen zu bespielen und diese Mission ist (hoffentlich) noch lange nicht abgeschlossen. Der intellektuelle Unterbau um die Inversionstechnik in TENET ist da nach der BATMAN-Trilogie nur ein weiteres, wenn auch lautstarkes Bekenntnis zur unbedingten Vereinbarkeit von klassischem Popcornkino und komplexen Diskursen. Ein Bekenntnis, das nicht der Arroganz ob der eigenen Ausnahmestellung entspringt, sondern der erkennbaren Liebe zum Kino. TENET ist ein Film, der für das Medium wie geschaffen ist und seine größte Stärken nur dort zur vollsten Entfaltung bringen kann. All die wunderbaren Darstellerleistungen (neben Washington und Debicki brillieren auch Kenneth Branagh als russischer Oligarch Andrei Sator und Robert Pattinson als undurchsichtiger Agentenpartner Neil), die erlesenen IMAX-Panoramen und die faszinierende Zeitreise-Idee, ja selbst die erlesenen IMAX-Panoramen würden auch auf kleineren Formaten noch Wirkung zeigen. Der rauschhafte Sog, die brachiale audiovisuelle Wucht, die Nolan mit diesem Film praktisch von der ersten Minute an entfesselt, braucht allerdings unbedingt den dunklen Kinosaal um zum Erlebnis zu werden.
Eine Schlüsselrolle spielt dabei der Score des Schweden Ludwig Görannsson, der nicht einfach eine schnöde Filmmusik schrieb, sondern darüber hinaus eine fremdartige Geräuschkulisse schuf, die später von Nolan im Schneideraum exakt auf die Bilder abgestimmt wurde. Fast durchgängig wummert und vibriert es während TENET, was durchaus irritierend sein kann, vielleicht stellenweise auch sein soll. Dazu entwirft Nolan gewohnt äußerst aufwändige Actiontableaus, die erkennbar fast ohne Computereffekte und Stuntdoubles auskommen, was ein permanentes Gefühl einer unmittelbaren Erfahrung evoziert, das man aus Kinofilmen so nicht kennt beziehungsweise nur sehr selten geboten bekommt. Schließlich wird auch die visuelle Wahrnehmung einer surrealen Begegnung ausgesetzt, in dem Nolan vorwärts und rückwärts ablaufende Aktionen parallel montiert. Ein Rausch, auch visuell. Der Niederländer Holte von Hoytema findet dazu ungemein präzise und klare Bilder, fernab moderner Sperenzchen wie starke Farbfilter oder Bewegung simulierender Handameradauereinsatz. Hoytemas Optik ist prächtig, aber dennoch unaufdringlich. Beinahe ein Art Ruhepol in all dem sinnlichen und gedanklichen Wirrwarr in das uns Nolan stürzt. Aber auch ein Wegweiser für allerlei versteckte Fährten und Hinweise, die über den ganzen Film verteilt sind. Denn Nolan hat neben der Zeit noch eine weitere Obsession, das Rätsel.
Ungewohnt rätselhaft ist diesmal allerdings der zu erwartende Erfolg des in dieser Hinsicht verwöhnten Regisseurs. Christopher Nolan und Warner Brothers gehen mit dem globalen Kinostart unter Pandemiebedingungen sicherlich ein nicht unerhebliches finanzielles Risiko ein. Der 200 Millionen Dollar teure Film dient als Versuchsballon für die in der Pipeline fest sitzenden Großproduktionen diverser Major-Studios. Sollte er scheitern, wäre das aber nicht nur ein empfindlicher Nackenschlag für Nolan, sondern vor allem für das Kino selbst. So gesehen ist TENET genau der richtige Film zum richtigen Zeitpunkt. Was angesichts all der medialen Dauerbefeuerung und zunehmenden Fast-Food-Metamorphose des Mediums ein wenig in Vergessenheit geraten scheint, dass das Kino einmal als Überwältigungsort, als sinnliches Ausnahmevergnügen galt, das rückt durch TENET wieder in den Fokus. Hier wird das Geschichten Erzählen neu verhandelt. Hier wird ein ganzheitliches Erlebnis geboten, das man im Rauschzustand erleben kann, sofern man denn will. Ein Erlebnis, das auch nach dem Kinobesuch noch nachwirkt, emotional, aber vor allem gedanklich, weshalb man es möglichst schnell wiederholen will. Eine Erfahrung, bei der man sich fragt, wie es wäre, sie rückwärts, also „invertiert“ zu durchleben. Am Ende zählt aber primär eines: Nolan hat bei aller Komplexität und Meta-Lust die Essenz des Kinos in beinahe anmutiger Klarheit heraus gearbeitet und vor allem deshalb ist TENET die eigene Zeit unbedingt wert. Und das ist nicht relativ, sondern absolut.